Was für eine Stimmung! Die Sporthalle der Grundschule im Süden der Stadt ist von ihrer Größe her zwar überschaubar. Die Kuchentafel ist trotzdem gefühlte 100 Meter lang. Wie gerne würde ich jetzt zugreifen. Aber erstens ist Fastenzeit, in der ich (nicht aus christlichen, sondern aus wettkampftaktischen Gründen) grundsätzlich meine Finger davonlasse. Zweitens weiß ich, dass mir so etwas kurz vor dem Lauf nicht gut bekommt.
Noch eine halbe Stunde bis zum Start. Ich sehe viele bekannte Gesichter. Ultraläuferin Tanja, Stefan aus meiner Traillaufgruppe, Power-Läuferin Silvia und meinen Hausarzt Claus, der sich ebenso auf die Strecke begeben wird. Kann mir also unterwegs nicht viel passieren. Angesichts der vielen Menschen wird es schwer, die ganze Gruppe traditionell vor dem „Nicht für Warmduscher“-Banner für ein Foto zusammenzutrommeln. Gefühlt sind alle Mitglieder der Laufgruppe auf sechs Toiletten verteilt. Langsam wird es Zeit, sich aufzustellen. Der Sprecher redet irgendwas von einem verlegten Ziel, was ich jedoch akustisch nicht verstehen kann: Zu laut sind die Anfeuerungsrufe. Und da ich das Rennen nicht gewinnen möchte, muss ich einfach den anderen hinterherlaufen.
Der Pulk setzt sich in Bewegung. Über eine Allee geht es in Richtung Teutohang. Jetzt heißt es, sich freizulaufen, ohne dabei zu viel Pulver zu verschießen. Denn die Klippen haben es in sich. Was mir auf der ganzen Strecke auffällt, sind die tollen Streckenposten: Sie pfeifen, klatschen, jubeln – erst recht dort, wo es hart wird. Da kenne ich andere – habe sogar schon welche bei Wettkämpfen auf ihrem Stuhl nicken sehen. Schilder weisen die Läufer jeweils auf die neun Klippen der 24,7-Kilometer-Distanz hin. Es geht hoch, und wieder herunter. Ich mache mir meinen Spaß daraus, Streckenposten Eva bei der Getränkeausgabe hinterm Ehrenmal fast umzurennen – sie ist Kollegin meiner Frau. Hinterher wird sie sich rächen und sagen, ich soll hier keinen Genusslauf machen. Man sieht sich immer zweimal im Leben: Vor Klippe 2 und vor Klippe 9.
Die Zeit läuft. Ich bin stolz darauf, alle Klippen gelaufen und nicht gegangen zu sein. Doch an meine einstige Bestzeit von etwas unter zwei Stunden ist an diesem Tag nicht zu denken. Es ist frühlingshaft warm, der Kopf pocht, heuschnupfengeplagte Läufer müssen angesichts der fortgeschrittenen Vegetation erst recht kämpfen. An der Getränkestation unweit des „Nassen Dreiecks“, dem Zusammentreffen von Mittellandkanal und Dortmund-Ems-Kanal, schütte ich mir einen Becher Wasser über den Kopf und trinke Tee. Der Doc wird mir später sagen, dass das bei meinem tierischen Sodbrennen, das mich plagt und zwingt, mein Tempo zu reduzieren, nicht die beste Idee war.
Ich laufe die lange Steinbruch-Klippe hinauf. Zum Glück weiß ich, dass sie sich in die Länge zieht. Und freue mich oben über den Radfahrer, der einen die letzten Meter kräftig anfeuert. Der ganze Verein scheint auf den Beinen zu sein. Nur wenige Ibbenbürener haben Glück, selbst mitlaufen zu dürfen – sie werden ausgelost. Viele „alte Bekannte“, die das Rennen zu schnell angegangen haben, sehe ich später wieder. So überhole ich meinen Laufkumpel Thorsten, den ich kräftig leiden sehe. Dabei ist die Hassklippe noch in weiter Ferne.
Ein Genusslauf, wie Streckenposten Eva mir weismachen wollte, ist das Ganze nicht, zumindest nicht bei meiner anvisierten Zielzeit. Ich genieße die Strecke etwa im Fünfer-Schnitt. Nach der langen Kaiserei-Klippe mit ihrem sandigen Bodenverhältnissen freut es mich, dass der Kurs oben in umgekehrte Richtung geht und ich sehen kann, wie sich die anderen quälen. Dann die Hassklippe. Ein Schild weist auf Nussecken hin. Power-Musik kommt aus den Lautsprechern. Als erfahrener Klippenläufer weiß ich, dass die Klippe nach zwei Dritteln der Strecke nicht zu Ende ist, sondern noch mal gemein links um die Kurve geht. Oben angekommen, geht die Party erst richtig los. Ich hätte gerne einen Likör getrunken…
Am härtesten finde ich die Wurzelklippe, die letzte von den neun Klippen, die dem Lauf ihren Namen gegeben haben. Der Weg ist uneben, ich muss mich zwingen, meine Beine hochzunehmen. Oben angekommen, wäre ich so gerne im Ziel. Doch es sind noch drei Kilometer. Während meine Begleiter Michael und Silvia locker den Berg hinunterhechten, muss ich langsam machen: Hätte nie gedacht, dass Sodbrennen so übel sein kann. „Toll, Mirco, weiter“, feuert mich eine Helferin an. Ich drück mir trotz des Schmerzes ein Lächeln heraus, nehme später ein Traubenzucker und freue mich an der Autobahnbrücke, dass es nicht mehr so weit ist, wie meine Uhr anzeigt. Und kurz danach trägt mich der Jubel ins Ziel. Das nächste Mal, beschließe ich, wieder dabei zu sein, und freue mich am Ende auf die Dusche. Von wegen: Nichts für Warmduscher!
Hinterlasse jetzt einen Kommentar